Auszüge aus dem Roman "Liebe mit offenen Augen" - von Jorge Bucay


 

Lieben und Verliebtsein - (Seite 50 bis 52)

"(...) Vielleicht beruht die Erwartung von unmittelbarem Glück, die wir normalerweise an die Paarbeziehung stellen - jener Wunsch nach dauerhaftem Hochgefühl -, auf einer trügerischen Verallgemeinerung des flüchtigen Moments von Verliebtheit.
Tatsächlich ist die Begegnung am Anfang leidenschaftlich, überschäumend, unbezähmbar, irrational. Die Emotionen überfallen uns, bemächtigen sich unser, und eine geraume Zeitlang sind wir außerstande, an etwas anderes zu denken als an das Individuum, in das wir verliebt sind, und an unsere eigene überschäumende Freude.
Im Zustand des Verliebtseins empfinden wir Freude, weil wir wissen, daß es den anderen gibt. Wir sind erfüllt von der keineswegs alltäglichen Empfindung vollkommener Zufriedenheit.
Dieser Zustand hält zwar nicht lange an, bleibt aber als ein wesentlicher Pfeiler der Beziehung ins Gedächtnis eingeschrieben und kann von Zeit zu Zeit neu belebt werden. Nach einigen Monaten nimmt die Realität uns wieder gefangen, und die Sache findet ein Ende, oder es beginnt die Ausgestaltung eines gemeinsamen Weges.
Wenn man sich verliebt, sieht man in Wirklichkeit den anderen nicht in seiner Totalität; vielmehr funktioniert der andere wie ein Bildschirm, auf den der Verliebte seine idealisierten Eigenschaften projiziert.
Im Gegensatz zu den Leidenschaften sind Gefühle weit dauerhafter und stärker in der Wahrnehmung der äußeren Realität verankert. Die Gestaltung der Liebe beginnt, wenn ich denjenigen, den ich vor mir habe, zu erkennen vermag, wenn ich den anderen entdecke. Genau da tritt die Liebe an die Stelle der Verliebtheit.
Ist der Anfangsmoment erst einmal vorüber, kommen nach und nach meine schlimmsten Eigenschaften ans Tageslicht, die ich ebenfalls auf den anderen projiziere. Jemanden zu lieben meint die Herausforderung, jene Projektionen aufzulösen, um mich mit dem anderen wahrhaft zu verbinden. Dieser Prozeß ist keineswegs einfach, aber es handelt sich hierbei um eines der schönsten Ereignisse, an denen wir beteiligt sind.
Liebe meint, daß >>uns das Wohlbefinden des anderen wichtig ist
Wichtiger als die Wesensart des anderen ist das Wohlbefinden, das ich an seiner Seite verspüre et vice versa - das Vergnügen, mit jemanden zusammenzusein. der sich darum kümmert, daß es mir gutgeht, der wahrnimmt, was ich brauche, und der es genießt, mir all dies zu geben. Das ist Liebe. (...)"

(Seite 55)

"(...) >> Beim Verliebtsein handelt es sich um eine Beziehung, in der die andere Person nicht als die wahrhaft andere erkannt, sondern so empfunden und interpretiert wird, als sei sie die Verdopplung des eigenen Ich, ausgestattet mit Charakterzügen, die dem idealisierten Bild vom eigenen Ich entsprechen. Im Verliebtsein steckt so etwas wie ein >ich liebe es, mich in dir gespiegelt zu sehen< ...
Mich verlieben heißt, dir mitzuteilen, wie sehr du mir sympathisch bist, weil du so anmutig den Spiegel hältst, in dem ich mich betrachte, um mir meiner Liebe zu mir selbst gewahr zu werden...
Doch es passiert, daß - in dem Maße, wie die Zeit vergeht und die Beziehung Wechselfälle erlebt - der vermeintliche Spiegel aufhört, ein Spiegel zu sein, und statt dessen, einem natürlichen Wunsch folgend, seine eigenen Identität wiederzuerlangen trachtet. Am Anfang war das Bedürfnis, sich geliebt und bewundert zu fühlen , dermaßen groß, daß es ihm relativ egal war, ob man ihn für einen anderen hielt. Wir sind so sehr auf Liebe angewiesen, daß wir sogar gern in diese Falle tappen und es eine Zeitlang genießen, darin sitzen...

(Seite 83 bis 84)

"(...) Jede Beziehung, die nicht auf die Entfaltung des ICH setzt, sondern dessen Wachstum verhindert, trägt - auch wenn sie stabil und zufriedenstellend zu sein scheint - den Keim zur eigenen Zerstörung in sich. Derlei Beschränkungen erkennen zu können ist von unschätzbarem Wert.
Die wahrhafte Beziehung zum anderen ist eine der schönsten Erfahrungen in unserem Leben: Nachdem wir in einem bestimmten Moment an den anderen geglaubt und in dessen Beisam unsere Angst vor Einsamkeit und Selbstbezogenheit haben überschreiten und überwinden können, nähern wir uns einander in Liebe. (...)"

(Seite 222 bis 224)

"(...) Wenn wir uns verlieben, veranlaßt uns das Unbewußte der Liebe dazu, uns einen ersten Moment lang zu öffnen und mit unserem wahrhaften Wesen in Kontakt zu treten. Der Zustand des Verliebtseins erscheint uns deshalb so wundervoll, weil wir uns dabei zeigen können, wie wir wirklich sind.
Verliebtheit ist die Begegnung zweier wirklicher Wesen. Dauernd spielen wir Rollen, funktionieren wie programmierte Roboter, und plötzlich geschieht ein Wunder: Wir legen unsere Verkleidung ab und schenken der geliebten Person unsere Gegenwart.
Wir wissen, daß dieser Zustand nicht lange andauert. Davor und danach kommen die Hindernisse zum Vorschein: Neigungen, Angewohnheiten und Verteidigungsstrategien. Der einzige Weg, diese Hindernisse zu überwinden, besteht - das gilt es zu lernen - darin, sie zu ergrunden, statt sie zu negieren oder auf unseren Gefährten zu projizieren.
Problematisch wird es, wenn wir uns mit unserem Panzer identifizieren und damit sicher fühlen. Wir wehren unbehagliche Gefühle ab, indem wir lernen, nichts zu spüren und uns von unseren Bedürfnissen abzukoppeln; die Abwehrstrategien verwandeln sich dann in eine Identität, die uns von unseren Gefühlen trennt und daran hindert, zu lieben.

In der Paarbeziehung können wir an uns beobachten, wie und wann wir uns dem anderen gegenüber öffnen oder verschließen, und je mehr wir darüber in Erfahrung gebracht haben, wann die Verbindung aussetzt, können wir herausfinden, auf welchem Kanal wir senden müssen, um uns zu öffnen.
Die Partner projizieren ihre eigenen verschlossenen Bereiche auf den anderen und übertragen so einen inneren Konflikt auf einen äußeren. Und so glauben wir, daß sich der andere verschließt, uns den Zugang verwehrt, abweisend ist.
Wenn wir gemeinsam und liebevoll diesen Weg gehen, können wir - statt auf die Reaktion des anderen zu reagieren - zeigen, was mit uns geschieht, wenn sich der andere entfernt und verschließt. Ich muß von meinem Gefährten hören, welche meiner Verhaltensweisen ihn verletzen und ihn von mir entfernen.

Die Paarprobleme beginnen dann, wenn wir nicht mehr anwesend sind - für uns selbst wie für den anderen -, wenn wir beginnen, uns hinter festgelegten Rollen zu verstecken, uns abschirmen; wenn wir die Entfernung des anderen, die häufig nur die Projektion unserer eigenen Entfernung ist, als schmerzlich empfinden.
Ich glaube immer weniger, daß die konkreten Probleme, an denen die Paare - nach eigener Aussage - leiden, die wirkliche Konfliktursache sind. Bei jedem Streit, den wir zu ergründen suchen, stoßen wir stets auf diesen Mangel an Kontakt und Offenheit.
Wenn ich mich öffnen und angesichts eines Problems meinen Schmerz zeigen kann, läßt sich - vorausgesetzt, mein Partner tut das gleiche - vielleicht eine Lösung auf einer anderen Ebene finden; denn am wichtigsten ist, daß wir uns einander zeigen, miteinander in Kontakt bleiben und dem Geschehen offen begegnen. Und dies ist tröstlich. Uns öffnen und darauf vertrauen, daß uns der andere so, wie wir sind, annimmt, ist eine Haltung, die uns zur Liebe führt. Ich muß mich nicht maskieren, damit du mich liebst. (...)"

(Seite 225)

" (...) >>Wie können wir zusammenbleiben, wo wir doch so unterschiedliche Interessen haben? Und ich antworte ihnen dann, daß wir letzlich alle dasselbe wollen: Liebe, Vereinigung, Verzicht auf den Panzer, Hingabe. (...)"