DER BRIEF

Der zerbrechliche alte Mann und seine verlorene Liebe. 

18.Mai 2016

 

Meine Geliebte,

 

Es tut mir Leid. Es tut mir Leid, dass ich so verzweifelt nach der Liebe meines Lebens gesucht habe, dass ich mich letzten Endes selbst verloren habe. Ich habe nach etwas gesucht, das so nie hätte existieren können. Ich habe unrealistische Erwartungen an meine Suche gestellt und fälschlicherweise warst du es dann, die meine Suche hätte beenden sollen. Ich habe dir eine Last auferlegt, eine Last, der du damals nicht gewachsen warst. Und heute kann ich dich gut verstehen warum du mich im Stich gelassen hast. Heute begreife ich, warum du dem nicht gewachsen warst und mich hast einfach fallen lassen.

 

Als ich dich gefunden habe, sah ich auf den Grund deiner Augen dieses zerbrechliche kleine Kind sitzen, das kristallklare Tränen geweint hat. Ich sah den Kummer in dir und in deinem Kummer spiegelte sich mein Kummer. Wir waren seelenverwandt. Ich spürte das Verlangen dich von deinen Ängsten und Sorgen zu befreien, ich wollte dir all deinen Schmerz nehmen, ich wollte dir sagen, dass alles gut wird und dass du dir keine Sorgen machen brauchst, denn nun war ich bei dir, nun war ich für dich da. Ich fühlte mich verantwortlich für dich. Alle Gedanken waren dir gewidmet, alle Aufmerksamkeit galt dir. Und während du das reinste Licht warst, war alles andere um dich herum pure Dunkelheit. Du hast mir mit deinem Licht scheinbar den Weg geebnet und ohne es zu wissen, hast du mich befreit und mir zeitweise meinen Schmerz genommen. Ich hatte eine Bestimmung, du gabst mir einen Sinn, aber ebenso führte diese dich umgebene und sich stetig ausbreitende Dunkelheit dazu, dass es mir immer schwerer fiel zu erkennen wer ich noch war. Auch mit dir an meiner Seite war dies mit der Zeit nicht mehr möglich, da ich von deinem grellen, betörenden Schein, der alles andere überdeckt hat, geblendet wurde. Und so lief ich blind durch die Weltgeschichte und war im Grunde genommen nicht mehr ich selbst. Ich verlor die Kontrolle, ich war nicht mehr Herr meiner Sinne. Ich bin überall angeeckt, ich habe meinen Kopf an den seltsamsten Dingen gestoßen und mir tat alles von oben bis unten weh. Ich habe unterwegs mein Herz verloren und später auch meinen Verstand.

 

Am Ende des Tages ist alles was übrig bleibt, wer man ist, doch wenn nichts von dem mehr bleibt, außer Bruchstücke seiner Selbst, die weit verstreut in der Dunkelheit umherliegen, so kann man sagen, dass etwas ganz gehörig verkehrt läuft. Meine Welt stand Kopf und ich habe vergessen wer ich einst war und wer ich eigentlich sein wollte.

 

Nachdem ich dich dann nach drei Jahren sinnlosen Hinterherlaufens endgültig verloren habe, lag ich zunächst nächtelang in Selbstmitleid versunken in meinem Bett, getränkt in Einsamkeit, Verzweiflung und Frustration, wissend dass ich machtlos bin, wissend, dass ich rein gar nichts mehr bezweckend kann, außer mein Schicksal zu akzeptieren. Ich habe mich in meinen Träumen versteckt und ich fühlte mich monatelang stumpf und leer, nicht mehr im Stande zu lieben, oder zu fühlen. Nach der Blindheit folgte dann auch noch die Taubheit. Nichts konnte mein Herz mehr berühren. Wie tief kann ein Mensch nur sinken.

 

Drei Jahre lang habe ich dich geliebt, drei Jahre lang warst du der Mittelpunkt meines Seins, aber drei Jahre lang warst du auch mein Schmerz und zugleich das passende Schmerzmittel das mir verabreicht wurde um diesen Schmerz zu lindern. Drei lange Jahre bin ich einem Geist hinterher gelaufen, doch bedauern tue ich keine einzige Minute an deiner Seite. Ich bedauere weder meine tiefe Zuneigung zu dir, die mich blind gemacht hat, noch die Angst vor Verlust, dass ich dich nie hätte halten können und auch bedauere ich nicht den dadurch entstandenen Schmerz, der tief in meine Seele eingedrungen ist und Narben hinterließ. Doch was ich bedauere, was ich wirklich zu tiefst bedauere, ist, was all das aus mir gemacht hat.

 

Die Liebe zu dir hat in mir eine Seite zum Vorschein gebracht die dazu führte, dass ich mich selbst nicht mehr länger leiden konnte. Ich habe mich gehasst, ich habe mich verachtet und mich darüber gewundert, wie viel ich noch ich selbst sein konnte. Ich konnte nicht mehr in den Spiegel blicken ohne dieses Stück Elend darin zu sehen. Es war unerträglich. Ich war nicht mehr im Stande mich selbst zu lieben. Ich stellte mein gesamtes moralisches Verhalten in Frage. Ich wusste nicht mehr was richtig, oder falsch ist, oder wo vorne und hinten liegt. Ich habe vollkommen die Orientierung verloren und wusste rein gar nichts mehr mit mir anzufangen. Während dein Leben nahtlos weiter verlaufen ist, blieb meines einfach stehen. Ich fühlte mich zurück gelassen, ich fühlte mich alleine. Du hast dein Leben gelebt und ich musste versuchen das Meinige zu leben.

 

Doch wie schließt man an ein ehemaliges Leben? Wie macht man dort weiter, wo man aufgehört hat zu sein, wenn man doch tief im Herzen begreift, dass es kein Zurück mehr gibt. All das Schöne, all die positiven Gefühle die einem so viel bedeutet haben, sind nur noch Erinnerung, Schatten der Vergangenheit, die mehr und mehr im Sog der Vergänglichkeit verblassen und unerreichbar sind. All das woran ich so sehr geglaubt habe, all das was mir so sehr das Gefühl gegeben hat lebendig zu sein, ist verflogen. Du warst die Liebe meines Lebens, jedenfalls glaubte ich ganz fest daran. Ich habe dich verloren und mit dir sind auch all meine Träume, Wünsche und Hoffnungen gegangen, denn ich habe dir von Anfang an alles gegeben und du hast mir am Ende alles genommen. Dadurch habe ich mich selber verloren. Das war der größte Fehler. Ich habe dir vertraut, ich habe dir alles anvertraut, alles was ich besaß.

 

Nun gibt es nichts mehr das mein Herz berühren könnte. Mein Herz ist erstarrt, es ist erfroren, ein Herz aus Eis, das zerspringt, wenn man es fallen lässt. Manche Dinge vermag selbst die Zeit nicht zu heilen, manchen Schmerz, der zu tiefst sitzt und einen fest umklammert, will nicht wie dunkle Wolken vorüber ziehen. Ein Schmerz der nicht vergehen will. Ich habe es versucht, ich habe versucht weiter zu machen. Ich habe versucht zu vergessen, um an mein altes Leben anzuknüpfen, um dort weiterzumachen wo ich aufgehört habe. Ich wollte den Schmerz ertragen, ich wollte ihn erdulden, ich habe versucht meine inneren Dämonen zu bändigen, zu kontrollieren, ich wollte ihnen Einhalt gebieten, doch ohne Erfolg. Ich habe versagt.

 

Ich konnte sie lediglich verdrängen. Ich sperrte sie in ein Verließ der Selbstverbannung. Doch nach zwanzig Jahren wurde mir bewusst, dass sie mich nur im Glauben ließen, ich hätte sie verdrängen können. Sie behielten insgeheim stets die Oberhand und sie konnten im Grunde genommen tun und lassen wonach ihnen war und für eine Weile haben sie sich dazu entschlossen in einen tiefen Schlaf zu versinken, wissend, dass sie sich im Hintergrund aufhielten, doch sie ließen mich für eine geraume Zeit tatsächlich in Ruhe.

 

Während sie schliefen fing ich an Sachen anzuhäufen. Es waren unnötige Sachen die mich mehr abgelenkt haben, als dass sie mich wirklich befriedigt hätten. Ich fand keinen Frieden in all diesem sinnlosen, überflüssigen Zeug. Dieses Zeug war nur Fassade, eine Fassade die dahinter meine wahre Natur verborgen hat. Die Menschen um mich herum haben nur noch gesehen wie ich scheine, aber niemand konnte mehr fühlen wie ich bin. Ich konnte nicht mehr ich selbst sein. Ich wollte einen Neuanfang, eine Wiedergeburt. Ich wollte diese Fassade abwerfen und in einem neuen Glanz erstrahlen. Doch meine inneren Dämonen ließen es nicht zu.

 

Nach zwanzig Jahren wurden sie aus dem Schlaf geweckt. Eine unerwartete Kälte weckte sie, eine Kälte die mir alles nahm, alles was ich bis dahin wieder angesammelt habe. Und zugleich entfesselten meine inneren Dämonen einen tiefen Schmerz aus einer längst vergessenen Zeit. Ich musste mich von meinen inneren Dämonen lösen, doch sie verfolgten mich auf Schritt und Tritt. Sie waren eine Last, eine Bürde die sich nicht abstoßen ließ. Man sagt, der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach, doch glaube ich vielmehr, dass der Geist von Schwäche genährt ist und auch den Ursprung menschlichen Leidens bestimmt. Ich war zu schwach und ich litt angesichts meiner Schwäche.

 

Meine Schwäche bist du, nur du allein. Ich glaubte fest daran dass du das Großartigste warst, was mir jemals hätte passieren können. Ich hoffte du würdest für eine lange Zeit bleiben, denn mein Herz hat dich wirklich sehr gemocht. Doch ich habe, oder vielmehr ich musste erkennen, dass ich mich an etwas festklammerte was nicht existieren konnte. Es war von Anbeginn zum Scheitern verurteilt. Es handelte sich hierbei lediglich um ein Konstrukt meiner regen Fantasie, eine Laune meiner Wahrnehmung, ein Traum, eine Illusion, ein Hirngespinst, nichts weiter als eine kümmerliche Rechtfertigung meiner bedeutungslosen Existenz. Ich habe erkannt, dass die Person, die ich so sehr vermisste nicht mehr existierte. Du warst nicht mehr der Mensch zu dem ich dich gemacht habe. Menschen ändern sich. Die Dinge die wir mögen, oder auch nicht mögen ändern sich und selbst wenn wir uns so sehr wünschten dem wäre nicht so, wird es doch immer so sein, denn Leben bedeutet Veränderung. Es ist erstaunlich wie jemand der einst ein Fremder für mich war die Welt bedeutet hat. Doch umso erstaunlicher ist es, dass jemand der mir die Welt bedeutet hat, wieder als Fremder endet.

 

Es tut mir Leid, dass ich nicht der war nach dem du gesucht hast. Es tut mir Leid, dass ich bis heute noch an dich denke, noch heute bist du mir immer noch so nah, wie vor zwanzig Jahren, als hätte ich dich erst gestern zum letzten Mal gesehen. Und nach wie vor möchte ich dir deinen Schmerz nehmen und dich von deinen Ängsten und Sorgen befreien.

 

Ich hoffe, dass es dir gut geht, ich wünsche mir vom Herzen, dass du alles erreicht hast was du in deinem Leben erreichen wolltest und du glücklich bist und es wäre schön, wenn du noch ab und zu an mich denken würdest, doch es gibt nichts das ich mir sehnlicher wünsche als an deiner Seite zu sein, um noch einmal dein bezauberndes Lächeln zu sehen, wenn du mir in die Augen schaust und mir dabei sagst, dass du mich liebst. Doch das Leben entspricht nicht immer den Erwartungen und zwischen der Hoffnung und der Wirklichkeit liegt die Ungewissheit unserer unerfüllten Träume.

 

Daher muss ich aufwachen und diese Träume aufgeben. Ich muss die Vergangenheit vergessen, ich muss dich vergessen und dich aus meiner Welt verbannen, du herzloses Miststück. Wenn ich versage, werde ich niemals meinen inneren Frieden finden. Dein Wesen hat meinen Verstand infiziert. Du bist wie ein Splitter in meinem Kopf der mich innerlich verbluten lässt. Du bist dieses zerbrechliche kleine Kind, das sich in meinem Gedanken Labyrinth voller Irrungen und Wirrungen verlaufen hat und in mir fest steckt. Ich möchte dir raus helfen, um dir dann beide Beine zu brechen. Ich muss dich vernichten. Für immer. Denn du bist die Wurzel meines Schmerzes und das Übel meines Seins.

 

Doch in Wahrheit, wenn man das Ganze aus der Ferne betrachtet, warst nie du das Übel meines Seins, sondern ich allein. Du warst nur der Spiegel meiner Selbst und das zerbrechliche kleine Kind, das ich auf den Grund deiner Augen gesehen habe, das warst nicht du, das war ich, ich allein. Leider kommt diese Einsicht nach zwanzig Jahren viel zu spät. 

 

In Liebe,

 

Der zerbrechliche alte Mann